Ich habe von den Vorkommnissen in der 13. Straße gehört, von dem wundersamen Laden, der nur ab und zu und nur ausgewählten Personen zugänglich ist. Zwei Frauen unterhielten sich heute morgen in der Bahn darüber. Die eine Frau, Mitte 20, hochgewachsen, schlank, mit langen blonden Haaren und einem sympathischen Lächeln erklärte ihrer Freundin, die Jule hieß, sie habe gestern am Ende eines längeren Aufenthaltes im Garten des Hauses Nr. 13, dem mit dem wundersamen Laden, erst sich selbst im Alter von ca. 80 Jahren, also quasi aus der Zukunft, und dann noch ihr Krafttier kennengelernt. Das war für sie ein einschneidendes Erlebnis gewesen. Jule ihrerseits hatte von ihrem Besuch dort berichtet und von einem magischen Schlüssel, mit dessen Hilfe sie endlich herausgefunden hatte, was ihr ganz besonderes Talent, ihre Superkraft ist, und wofür sie sie einsetzen kann. Sie glaubt, ihre Lebensaufgabe endlich gefunden zu haben. Versonnen hat sie dabei den Schlüssel, der an einem Samtband um ihren Hals hing, in die Hand genommen, betastet und liebevoll betrachtet. Es schien, als ob ihr der Schlüssel so wie ein Amulett Zuversicht und Kraft spendet. So, wie wenn er die Kräfte und Fähigkeiten seiner Trägerin verstärken und nach außen sichtbar machen würde.
Beide zeigten sich erstaunt von dem Phänomen, dass Zeit keine Rolle spielte innerhalb dieses magischen Ortes. Die Zeit schien ausgesetzt zu haben während des Aufenthaltes, egal wie lange er dauerte. Am Ende waren nur wenige Minuten in der Alltagswelt vergangen, auch wenn man sich gefühlt viele Stunden an diesem speziellen Rückzugsort aufgehalten hatte.
Sie erzählten und erzählten. In ihren Erzählungen gab es hin und wieder Übereinstimmungen, aber dennoch unterschieden sich die Erlebnisse und Erfahrungen. Aber einig waren sich beide, dass sie etwas sehr Ungewöhnliches und Magisches erlebt hatten. Und dass ihr Leben von nun an eine andere Wendung nehmen würde. Da waren sie sehr zuversichtlich. Mit Begeisterung schmiedeten sie Zukunftspläne und schienen keinerlei Zweifel zu haben, dass das, was sie sich ausmalten, auch eintreffen würde.
Ich war sehr neugierig geworden. Ob ich diesen magischen Ort auch finden könnte? 13. Straße, Ecke Deichstraße mit Blick auf das Meer hatten sie gesagt ….
Bist Du schon da gewesen? Und wenn ja, was hast Du zu berichten?
Letzte Nacht habe ich geträumt, ich hätte tatsächlich den Garten des magischen Hauses in der 13. Straße besucht, mitten in der Nacht! Der Vollmond hatte ihn hell erleuchtet. Ich stand urplötzlich mitten im Labyrinth in der Mitte des Gartens und hatte nicht die mindeste Ahnung, wie ich da hin gekommen war. War mein Wunsch, diesen magischen Ort aufzusuchen so stark gewesen, dass ich mich quasi dahin geträumt hatte? Jedenfalls war ich die verworrenen Wege aus dem Labyrinth heraus gegangen. So oft dachte ich: „Jetzt bist du gleich draußen“, doch dann kam wieder eine Biegung, die mich in eine entgegengesetzte Richtung führte.

Als ich schließlich aus dem Labyrinth heraus trat, erblickte ich in der Ferne einen weiß schimmernden Turm, der mich sofort magisch anzog. Der Weg dahin war länger als erwartet. Und eigentlich sollte ich doch in meinem Bett liegen und schlafen. Die Uhr auf meinem Handy zeigte 2:00 Uhr nachts. „Was geistere ich hier draußen herum?“ Aber es schien, wie wenn der Turm mich zu sich heran winken würde. „Okay, ich gehe einfach mal weiter. Ich weiß gerade sowieso nicht, wie ich in mein Bett zurück kommen könnte. Vermutlich ist das alles nur ein Traum und ich wache demnächst auf.“ sinnierte ich. Da fiel mir ein Apfel direkt vor die Füße. Ich hob ihn auf und roch an ihm. So verführerisch hatte noch nie ein Apfel gerochen. Ich biss hinein und war erst mal einfach glücklich. Wow, was für ein Geschmackserlebnis! Ich ging essend weiter und war völlig selig. Ich wollte gerade gar nichts mehr. Und dann stand ich unvermittelt vor der Eingangstür des Turmes. Schnarrend öffnete sie sich, wie wenn sie mich erwartet hätte. Ich zögerte, blickte mich um. Alles war still, alles war dunkel. Was tun? Die Neugier überwog. Schließlich hat mein Handy eine Taschenlampe. Ich ging hinein und stieg die steile Wendeltreppe hinauf. „Was wird mich erwarten?“ Die Treppe schien endlos zu sein. Doch dann kam ich auf der Plattform ganz oben im Turm an. Hier stand zu meiner Überraschung ein geblümter Ohrensessel, der sehr gemütlich aussah. Auf einem Tischchen stand eine dampfende Tasse Kaffee. Ich ließ mich in den Sessel fallen und trank einen Schluck Kaffee. Dabei schaute ich aus dem Fenster. Gerade schickte sich die Sonne an aufzugehen. Dunkel lila bis leuchtend rot war der Himmel. Ich konnte unendlich weit sehen. „Wie kann das sein mitten in der Stadt,“ dachte ich. Die Luft war so klar, am Himmel keine Wolke. Alles wirkte wie frisch gewaschen. Die Welt erwachte. Ich staunte. „Warum bin ich hier?“ „Habe ich mich her gewünscht, weil ich mehr über mein Schicksal erfahren möchte, weil ich nicht einfach so vor mich hin leben und alles einfach geschehen lassen möchte?“ Ich möchte mein Leben aktiv gestalten. Ich will wissen, was ein Auftrag ist, was die Zukunft für mich bereit hält und was ich tun kann, damit mein Leben eine glückliche Wendung nimmt. Ich bin dieses ewige Pech so satt! Ich will endlich Freude und Erfüllung und genug Geld und auch Zeit und schöne Erlebnisse haben, ‚Museumstage‘ wie John Strelecky, der Autor des Bestsellers ‚Big Five for Life‘ es nennt. Und wer weiß, vielleicht will ich ja nochmal einen Partner haben.
Ich saß also bei Sonnenaufgang hoch oben in einem Turm in einem gemütlichen Lehnstuhl mit einer leckeren Tasse Kaffee und träume vor mich hin. „So finde ich das Leben ganz wunderbar, So könnte es bleiben!“ Es war wohlig warm und ich habe mich in eine bereitliegende warme, kuschelige Patchworkdecke eingemummelt. Alles war gut.
Als ich wach werde, liege ich in meinem Bett, auf dem Nachttisch liegt ein angeknabberter Apfel. „Nanu?“ denke ich. Ich fühle mich erfrischt wie selten beim Aufwachen. Plötzlich sind die verworrenen Gedanken in meinem Kopf klar. Ich springe energiegeladen aus dem Bett. „Komisch, habe ich noch nie gemacht“, ist der Gedanke dabei. Ich summe vor mich hin, als ich die Kaffeemaschine anstelle. Es ist noch richtig früh, ganz ungewohnt. Ich bin doch eine solche Langschläferin. „Ich habe heute frei!“ Jubele ich und drehe mich mehrmals um die eigene Achse.
„Schreibzeit“ freue ich mich und schlendere mit dem heißen Kaffee in der Hand zu meinem einladend wirkenden Schreibtisch am Fenster. Ich schaue noch eine Weile vor mich hin und den Meisen zu, die mit Vergnügen die bereit gestellten Körner aufpicken. Dann fange ich an zu schreiben und bin bald völlig vertieft.
Ich erzähle von einem leuchtend weißen Turm mit gemütlichem Turmzimmer, weiter Aussicht, einer Herde Schafe, die friedlich auf der Wiese davor weiden und sich das saftige Gras schmecken lassen. Und auch von der kecken Biene mit dem bedrohlichen Stachel, die es auf meinen leckeren Apfelkuchen abgesehen hatte. Ich berichte von einem durch und durch friedlichen, entspannten Tag und denke: „So sollten alle Tage sein!“
Erst mittags, als mein Magen „Hunger“ meldet, sehe ich wieder auf und bin erstaunt, wie viel ich geschrieben habe und wie leicht es mir von der Hand ging.
