3 Die Pyramide der Berufung

Als sie am nächsten Morgen wieder zu der Stelle kommt, wo der Laden war, sieht sie dort nur ein ganz gewöhnliches Hochhaus mit vielen Klingelschildern. „Was ist passiert? Die Adresse stimmt doch. Ich bin mir sicher, ich habe sie mir richtig eingeprägt. Und ich bin mir sicher, genau diesen Weg gegangen zu sein. Habe ich von diesem speziellen Laden nur geträumt?“ Aber um ihren Hals baumelt der Schlüssel. Sehr mysteriös.

„Erst mal frühstücken!“ An der Ecke entdeckt sie einen Diner. „Hm, Kaffee, hm, Pfannkuchen mit Ahornsirup und Rührei mit Speck und ein leckeres Croissant mit Marmelade!“ Als sie den Diner wieder verlässt, auf die Straße tritt und ins Sonnenlicht blinzelt, traut sie ihren Augen nicht: „Mr. Mirakels Laden für wundersame Dinge“, leuchtet ihr das Ladenschild entgegen. Heute ist es eine Neonreklame. Gestern war es ein fein gemaltes Keramikschild. Sehr merkwürdig, aber egal. Sie betritt den Laden. Durchquert ihn, geht direkt in den Innenhof, begrüßt fröhlich Fritz und Lisa und macht sich auf, den Garten zu erkunden. Mit jedem Schritt wippt der Schlüssel sanft an seinem Band. Sie ist gut gelaunt. Die Sonne scheint. „Was soll mir schon geschehen?“ All die fiesen Monster, die sie sonst ständig in ihrem Alltag begleiten, sind weg gepustet. Sie ist freudig erregt. Ein Abenteuer erwartet sie. Wo mag sich das Schloss zum Schlüssel verbergen? Braucht ein kristallener Schlüssel auch ein gläsernes Schloss? Was für eine Art Gebäude würde zu einem gläsernen Schloss passen? Als sie um die nächste Ecke biegt, sieht sie eine gläserne Pyramide im Sonnenschein glitzern und steuert direkt darauf zu. Am Eingang der Pyramide weist ein schwarzer Pfeil nach unten. Vor ihren Füßen erscheint quasi eine Treppe Stufe für Stufe, die sie tiefer steigt. Sie ist erstaunt, der weit größere Teil des Gebäudes scheint sich unterirdisch zu befinden. Und es dehnt sich permanent weiter aus. Eine Art großer und ständig größer werdender Saal erscheint. Beleuchtet ist er vom Licht der Sonne, das über ein ausgeklügeltes Spiegelsystem in die hintersten Winkel geleitet wird.

Fast wäre sie auf einen riesigen Käfer getreten. Sie erschrickt kurz und hält mitten im Schritt inne. „Sie haben mich gerufen, Madame?“ vernimmt sie seine Stimme und es sieht so aus, wie wenn er sich vor ihr verbeugt. Sie wundert sich einfach mal gar nicht. Da hat sie gerade keine Lust zu. Der Skarabäus stellt sich als Mr. Black vor. Schon fährt er fort: „Bitte folgen Sie mir.“ Bist DU schon einmal einem Käfer gefolgt? Erstaunlich geschickt meistert er die Treppenstufen. Die Treppe war zunächst unendlich erschienen, die Entfernung zu ihrem Fuße, zum Saal, schien überhaupt nicht abzunehmen. Doch plötzlich stehen sie auf dem glitzernden gläsernen Fußboden. Zielstrebig durchquert er den Saal. Dabei ist er so flink, dass sie sich mächtig beeilen muss, um Schritt halten zu können. An den Wänden des Raumes befinden sich zahllose Glastüren mit geschwungenen Klinken und hübschen Schlössern. „Aha, mein Schlüssel gehört dann wohl zu einer dieser Türen.“, denkt sie. „Tja,“ antwortet der Skarabäus ihren Gedanken. „Allerdings musst du mir eine Frage beantworten, bevor du Zugang zu deiner Türe erhältst. Deine Tür wird erst erscheinen in dem Moment, in dem du das Bewusstsein erlangst, um sie zu sehen. Vorher bleibt sie unsichtbar.“ „Was verbirgt sich denn hinter der Tür? Was ist da eingeschlossen?“, will sie wissen. „Wenn es dir gelingt, deinen Raum zu öffnen, erfährst du, was deine eine ganz besondere Gabe ist, die nur du hast und niemand sonst. Das, was dich einzigartig macht.“

„Wie lautet die Frage?“
„WARUM BIST DU HIER?“
Wie aus der Pistole geschossen antwortet sie: „Ich will wissen, wer ich bin. Und was meine Aufgabe im Leben ist.“
Nachdem sie die Frage beantwortet hat, fährt er fort: „Du trägst das Wissen, was deine besondere Gabe ist, wozu genau du berufen bist, in dir. Das kann dir niemand außer dir selbst sagen. Du hast es nur vergessen. Betrete deinen Raum und du wirst dich erinnern. Und du wirst die Gewissheit finden, dass dir alles gegeben wird, um deine Aufgabe zu erfüllen, sobald du dich auf den Weg machst. Setze den ersten Schritt und die Reise beginnt.“

Jule betritt den Raum und befindet sich in einer Art 3D Kino. An den Wänden spielt ein Film ihre ideale Zukunft ab. Sie ist mitten drin, wird sofort zur handelnden Person. Es ist, wie wenn sie eine 3D Brille aufsetzt, um in eine virtuelle Realität einzutauchen.

Aber ohne Brille, nur durch das Betreten des Raumes. Es ist vollkommen realistisch und kommt ihr nicht im Mindesten komisch vor. Sie steht auf einer Bühne und hält eine flammende Rede vor Publikum, das sie voll mitreißt. Sie schaut in die leuchtenden Augen und spürt die Begeisterung.
Jemand anders würde voller Hingabe an einem Bild malen, oder an seinem Schreibtisch sitzen, voll im Flow beim Schreiben des nächsten Kapitels für sein Buch. Du würdest vielleicht fantastische Torten kreieren oder kombiniertest das wohlschmeckendes Menü aller Zeiten, spieltest mit deiner Enkelin, spaziertest mit deinem Partner Hand in Hand am Meer entlang, feiertest mit Freunden eine Party, reistest um die Welt und würdest interessante Menschen treffen und Spannendes über andere Kulturen lernen. Oder du säßest mit deiner besten Freundin im Café, mit der Familie am Abendbrottisch oder hättest einen Spieleabend. Ich würde im Wald spazieren gehen und dabei sehr glücklich aussehen. Oder ich säße unter einem Baum und hielte quasi eine Sprechstunde ab. Menschen kämen zu mir und würden meinen Rat suchen. Warum sitze ich unter einem Baum und nicht in einer Praxis? Das ist schräg. Es gibt so viele mögliche Szenarien aus unserer glücklichen Zukunft, die wir in diesem Raum erleben können!

Was siehst DU für Bilder, wenn du den Raum betrittst?