4 Der Spiegelsee der Möglichkeiten

Du hast vielleicht mehr Lust, den Garten weiter anzusehen, statt die Pyramide zu erkunden. Schließlich ist so schönes Wetter. Du spazierst zwischen den Rabatten, der Kies raschelt leise unter deinen Füßen. Du genießt die laue Luft und die Sonnenwärme auf deiner Haut, hörst das aufgeregte Gezwitscher der Vögel im Birnbaum während eine Hummel an dir vorbei summt. Und du denkst: „Es ist so schön friedlich.“ Du bist gar nicht verwundert darüber, dass außer dir hier niemand unterwegs ist. Du genießt es, ohne Trubel und ohne Anforderungen herum schlendern zu können. Mal einfach für dich sein zu dürfen. Nur mit dir, ohne Ablenkungen. Du kannst dich treiben lassen, vor dich hin träumen. einfach mal entspannen und nichts müssen. Dann hörst du ein sanftes Rauschen und bemerkst jetzt erst, dass ein Bach deinen Weg begleitet. Das Wasser plätschert fröhlich vor sich hin. Es scheint über deine Anwesenheit erfreut zu sein. Es folgt einfach der vorgegebenen Richtung, muss sich keine Gedanken machen, wohin es fließen will. Während du ständig Entscheidungen treffen musst, große, kleine und auch ganz winzige, ob du jetzt einen Kaffee möchtest zum Beispiel. Das ist so furchtbar anstrengend, sogar so sehr anstrengend, dass viele Entscheidungen per Autopilot laufend gefällt werden von deinem System, um Energie zu sparen. Du fühlst dich so erschöpft und ausgelaugt von dem ganzen Nachdenken.

Nach wenigen Schritten und einer Biegung mündet der Bach in einen hübschen, kleinen See, auf dessen kräuseliger Oberfläche sich Sonnenstrahlen glitzernd spiegeln. Schon stehst du am Ufer und schaust in das wunderbar klare Wasser. Plötzlich ist es ganz windstill. Die Wasseroberfläche ist so glatt und klar, dass du dein Spiegelbild sehen kannst. Aber halt, das bist zwar du, du kannst dich erkennen, aber dein Spiegelbild ist um vieles älter als du. Dir blickt eine alte Frau freundlich und gut gelaunt entgegen. Das bist du, aber in hohem Alter. Diese Version von dir, die dich unverwand anblickt, ist sehr entspannt und wirkt glücklich und zufrieden.

Dein älteres Ich blinzelt dir zu und begrüßt dich: „Schön, dass du vorbeischaust. ich freue mich sehr, dass wir uns hier treffen. Ich habe dir so viel zu erzählen und du kannst mich natürlich alles fragen. Wie geht es dir denn?“
„Guten Tag. Wie kommt es, dass du, mein Spiegelbild, nicht mich widerspiegelst, sondern anscheinend ein zukünftiges Ich, dass ja noch gar nicht existiert. Denke ich mir das gerade aus? Träume ich?“ „Oh, natürlich existiere ich. Ich bin immer schon da. Du kannst mich fragen, welche Entscheidungen du jetzt treffen kannst, welchen Weg du einschlagen musst, um zu mir zu werden. Natürlich nur, wenn du zu mir werden willst. Es existieren auch andere Ausgaben deines Ichs im Alter. Du kannst wählen. Und du kannst dich später auch immer noch umentscheiden. Es wird immer wieder Möglichkeiten geben, anders abzuzweigen.“
„Du scheinst glücklich zu sein. Du scheinst voller Freude zu leben und nicht in ständiger Angst und permanentem Stress. Kannst du mir sagen, wie ich es schaffen kann, mich nicht immer so anstrengen zu müssen? Für mich ist das Leben ein immerwährender Kampf ums Überleben. Ich bin immer in Alarmbereitschaft und alles ängstigt mich fürchterlich. Das kostet soviel Energie und es bleibt einfach nichts übrig für die Dinge, die Spaß machen und mich erfüllen. Ich bin immer unendlich müde. So miesepetrig bin ich ja auch keine gute Gefährtin. Ich kann mich ja nicht mal selbst leiden und kann es nicht mit mir aushalten. Warum sollte jemand anders mit mir zusammen sein wollen? Außerdem sammele ich zu viele Dinge an. Dinge sind mir wichtig. Ich hänge so sehr an ihnen und kann nichts loslassen, nichts abgeben, weil es mir sonst später schmerzlich fehlen würde. Und auch mein Körper sammelt alles an, was ihm an Nahrung zugeführt wird statt mich zu wärmen oder mir Energie zur Verfügung zu stellen. Er hortet lieber Kalorien in Fettschichten wie ich Dinge in meiner Wohnung horte.
Dann ist da noch die Sache mit dem Geld. Es ist nie genug da. Sobald Geld reinkommt, kommt auch wieder eine Rechnung, die es einfordert. oder ich entdecke etwas, was unbedingt zu mir muss, wo ich nicht widerstehen kann, es zu kaufen. Das kann Deko sein oder ein Buch oder ein Seminar, von dem ich mir quasi Erlösung von meiner Pein erhoffe, Tipps, die mich in meiner Entwicklung weiterbringen, meinen Weg erleichtern, mir helfen Probleme zu lösen.
Und habe ich schon erzählt, dass mir auch ständig Zeit fehlt. Ich hinke mit meiner To do Liste immer hinterher. Ich habe keinerlei Chance, mein Ziel jemals zu erreichen.“

Zeit

„Ich wüsste nur zu gerne, warum mein altes Ich so glücklich und zufrieden wirkt. Wie hat sie ihr Leben geführt, um dahin zu kommen? Welche anderen Entscheidungen hat sie getroffen? Was hat sie gehen lassen? Wie und was hat sie manifestiert?“ denkst du währenddessen.
Dein Spiegelbild schaut dich weiter freundlich an, hat dir sehr aufmerksam zugehört, sagt erst mal nichts, wartet ab. Es lässt dich deinen Gedanken zu Ende denken. Schaut dich jetzt erwartungsvoll an. „Was meinst du denn, woran es liegen könnte, dass dein Leben so verläuft wie du gerade schilderst?“ fragt es schließlich. „Ich habe irgendwie keine Pause- und keine Stopp-Taste; und kaputte Filter noch dazu. Meine Gedanken rasen ständig. Ich bin voller Erwartungen, an mich selbst vor allem, und voller Sehnsüchte. Und ich verausgabe mich ständig, weil ich mich immer in Aktion halte, wie wenn ich nicht mehr existieren würde, wenn ich aufhören würde, zu denken oder zu handeln. Ich habe Angst, mich zu verlieren, wenn ich inne halte. Es will noch so viel getan werden! So viel zu erledigen und zu erleben. Und vor lauter Aufregung trete ich gefühlt immer auf der Stelle und nehme die kleinen Fortschritte gar nicht richtig wahr. Ich bin immer so atemlos!

zerrissen


Aber das Schlimmste ist, ich habe meine Berufung immer noch nicht gefunden! Warum bin ich eigentlich hier? Was ist meine Aufgabe? Was muss ich unbedingt tun und sehe es nicht? Was ist das, das nur ich tun kann und niemand sonst? Und dann schäme ich mich auch noch, weil ich es nicht sehe, weil ich mich immer zu sehr anstrenge, nicht zu Leichtigkeit fähig bin und keinen Erfolg verzeichnen kann. außerdem bin ich zu blöd zum Manifestieren. Ich kreiere mein ganzes Unglück und all die Anstrengung auch noch selber. Und komme nicht raus aus der Spirale. Wie hast du Gelassenheit und Leichtigkeit erlangt?

Berufung

Welche Entscheidung ist nötig? Was muss ich loslassen? Ich kann so schlecht loslassen. Ich halte krampfhaft alles fest, auch Unnützes und Schädliches oder Schmerzhaftes. Wer kann mir helfen? Hast du einen Tipp für mich?“
„Oh jeh, so viele Gedanken, so viele Fragen! – Genau das scheint mir doch die Antwort zu sein! Lass es einfach bleiben – all das.“
„Klar, ganz einfach. Das habe ich mir auch schon tausende Male gesagt. Aber funktioniert hat es bisher nicht. Und was jetzt?“ stöhnst du.

„Es nützt nichts, dann wirst du so lange weiter üben müssen, bis es klappt. Nur du kannst die Entscheidung fällen. Du kannst Leichtigkeit wählen und glücklich sein. Das kannst alleine nur du. Du musst die Entscheidung treffen. Es ist nur eine Entscheidung. Es liegt ganz alleine bei dir.“ Sie lächelt dich an.
Ein leichter Wind kommt auf. Die Seeoberfläche kräuselt sich. Das Spiegelbild verschwindet. Du bist wieder alleine. Du setzt dich auf einen großen Stein und atmest erst mal durch. Deine Gedanken schwirren hierhin da da hin. Du wirst schläfrig von so viel Input und hast das Gefühl, du driftest weg. Du fällst. Es ist kein Boden mehr unter deinen Füßen.