Jule hat also den Laden durchstöbert. Sie ist ruhiger geworden, fühlt sich zum ersten Mal seit langer Zeit wohl und hat nicht das Gefühl, völlig fremd und fehl am Platz zu sein. Sie entspannt sich und ist gleichzeitig neugierig. Und sie ist entzückt bei allem, was sie wahrnimmt. So viele Erinnerungen an längst vergessene schöne Augenblicke kommen zu ihr. Da kommt ein netter ältlicher Mann lächelnd auf sie zu. Es scheint der Besitzer des Ladens zu sein. Er begrüßt sie. Er strahlt so viel Wärme und Freundlichkeit aus. Er schaut ihr in die Augen und es ist, als würde er ganz tief in ihre Seele blicken. Sie braucht gar nichts zu sagen. Er versteht. Er führt sie zu einem schwarzen, verschnörkelt verzierten Bord an dem viele verschiedene Schlüssel baumeln. Er nimmt einen in die Hand, betrachtet ihn abwägend, greift nach dem nächsten, berührt noch einen, kommt wieder zum ersten zurück, streicht sich sinnend über sein Kinn, murmelt leise vor sich hin. Er betrachtet sie eingehend, wiegt den Kopf. Schließlich greift er ganz rechts oben in die Ecke und zieht einen Schlüssel hervor, den sie bisher nicht wahrgenommen hat. Erstaunlicherweise ist er aus Glas. Er ist durchsichtig und glitzert im tanzenden Sonnenlicht, das durch ein Fenster hereinscheint. Mr. Mirakel wiegt ihn in seinen Händen, dann nickt er und legt ihr den Schlüssel in die Hand. Der Schlüssel fühlt sich kühl und irgendwie sehr schwer an, doch auch irgendwie seltsam vertraut. Zu welchem Schloss könnte er gehören?
Sie sieht Mr. Mirakel fragend an. „Den wirst du brauchen. Pass gut auf ihn auf.“ lautet die Antwort auf ihre noch nicht gestellte Frage. „Zu was für einer Art Schloss könnte der passen“, überlegt sie. „Das wirst du schon heraus finden“, sagt Mr. Mirakel und zwinkert ihr zu. Er wünscht ihr Glück. Dann verabschiedet er sich und ist auch prompt schon verschwunden. Sie steht wieder alleine im Laden. Verwundert blinzelt sie und schaut sich im Raum um. Im Sonnenlicht tanzen kleine Staubpartikel. Der mysteriöse Schlüssel liegt schwer in ihrer Hand. Sie betrachtest ihn noch einmal genau. Ihr Gehirn meldet: “Großes Fragezeichen“. Der Schlüssel hängt an einem samtenen, violetten Band. Er ist sehr hübsch anzusehen. Sie hängt ihn sich um den Hals. „Ich bin jetzt also die Trägerin eines Zauberschlüssels“, denkt sie. „Nur wozu ist er gut? Was soll ich damit? Was will er mir sagen? Wohin will er mich führen? Was ist seine Botschaft? Hat er eine Botschaft für mich?“ Sie blinzelt erneut. „Erst mal hinsetzen und einen Kaffee trinken.“, denkt sie weiter.
Gerade hat sie den Tresen entdeckt, auf dem verschiedene Getränke stehen und kleine, feine Törtchen, auch herzhafte. Sie nimmt sich eine Tasse Kaffee und ein verführerisches Nougattörtchen und schlendert damit zu einer Bank im Innenhof. In der Sonne glitzert der Schlüssel fröhlich. „Alles gut. Ich habe Zeit. Ich muss erst mal gar nichts. Gerade drängt mich niemand und nichts. Ich werde meinen Kaffee und das köstliche Törtchen im Halbschatten genießen und es mir einfach gut gehen lassen.“ Sie lässt einfach mal die Seele baumeln. Es gibt keinen Grund für hektische Aktivitäten oder mäandrierendes Denken. Sie lässt in und um sich Ruhe einkehren. Einfach Stille. Auch in ihr ist ausnahmsweise mal kein Lärm. Nur das Rascheln von Blättern und das Summen und Surren von Insekten und Vogelstimmen aus der Ferne vernimmt sie. Es ist wohlig warm. Sie spürt die Sonne auf der Haut, einen sanften Windhauch, der den schweren Duft von Flieder mit sich trägt. Sie wird angenehm träge. Da entdecken sie Fritz und Lisa und begrüßen sie fröhlich mit einem „Schönen Guten Tag, schöne Maid! Ist es nicht ein wundervoller Tag heute?“ Kurz danach muss sie wohl eingedöst sein. Als sie die Augen wieder öffnet, ist es dunkel. Am Himmel steht die Mondsichel und schaut auf sie herab. „Sehr merkwürdig das Ganze. was mache ich spät abends in diesem Hof statt bei mir zuhause? Wieso hat mich zum Ladenschluss niemand geweckt?“ Der Schlüssel ist immer noch da. „Aber okay, Morgen ist auch noch ein Tag.“, sagt sie sich. Sie entdeckt das leuchtende Schild AUSGANG, verlässt den Hof durch eine kleine Pforte und macht sich auf den Heimweg.